Gründerteam Aaron | Iwan Lappo-Danilewski, Tobias Wagenführer, Richard von Schaewen

“Würde sich jeder Mensch personalisiert ernähren, könnten wir viele Krankheiten verhindern ”

Perfood entwickelt digitale Produkte für eine personalisierte, niedrig-glykämische Ernährung. Das Unternehmen wurde 2017 von Dominik Burziwoda, Dr. Dr. Torsten Schröder, Dr. Christoph Twesten und Prof. Dr. Christian Sina gegründet. Im Interview spricht Dominik Burziwoda über den Paradigmenwechsel in der Ernährungswissenschaft und verrät uns, wieso er besser Weißbrot essen sollte statt Müsli.

Dominik, was ist eine niedrig-glykämische Ernährung?

Eine niedrig-glykämische Ernährung trägt zu einem möglichst konstanten Blutzuckerspiegel bei – insbesondere verhindert sie, dass nach Mahlzeiten der Blutzucker in die Höhe schnellt und starke Stoffwechselreaktionen des Körpers auslöst.

Wieso ist das wichtig?

Weil ein stark schwankender Blutzuckerspiegel bei vielen Krankheiten eine Schlüsselrolle spielt. Der Blutzuckerspiegel ist der zentrale Wert des Glukosestoffwechsels – er bestimmt maßgeblich die Insulin-Ausschüttung und eine ganze Reihe weiterer Stoffwechselprozesse des Körpers. Diesen Zusammenhang kennen viele von Typ-2-Diabetes. Weniger bekannt ist, dass er auch bei Migräne, Schuppenflechte, Krebs oder Demenz eine große Rolle spielt. Und auch bei gesunden Menschen ist ein konstanter Blutzuckerspiegel zentral für Wohlbefinden und gesundes Altern.

Also entwickelt ihr sowohl Medizin- als auch Lifestyle-Produkte?

Ja, genau. Gesundheit und Krankheit sind, wenn man die darunterliegenden Stoffwechselprozesse anschaut, ja nicht so kategorisch getrennt wie wir es im Alltag oft einordnen. Diabetes, Herzinfarkte oder Migräne kommen nicht aus dem Nichts. Studien zeigen sowohl einen hohen Einfluss des Glukosestoffwechsels auf all diese Erkrankungen als auch auf das allgemeine Wohlbefinden von gesunden Menschen. Wer sich personalisiert niedrig-glykämisch ernährt, beugt also einerseits Krankheiten vor; und zum anderen fühlt man sich insgesamt wohler, ist leistungsfähiger und kann sich besser konzentrieren.

Welche Produkte habt ihr oder entwickelt ihr gerade?

Auf dem Markt haben wir bereits das Lifestyleprodukt MillionFriends. Es richtet sich an gesunde Menschen, die ihr Wohlbefinden verbessern und gesund bleiben wollen. Daneben entwickeln wir digitale Therapien für Menschen, die tatsächlich von einer der genannten Krankheiten betroffen sind. Diese Medizinprodukte enthalten neben der personalisierten, niedrig-glykämischen Ernährung zusätzliche Features, welche die Erkrankungstherapie unterstützen und in Studien evaluiert werden. Als erstes werden wir das Produkt sinCephalea für Migräne-Betroffene auf den Markt bringen. Später wollen wir Diabetes mellitus Typ 2, Darmkrebs und PCOS angehen. PCOS ist vielen nicht bekannt, ist aber die häufigste Ursache für Unfruchtbarkeit bei Frauen.

Ersetzen eure Produkte den Besuch beim Arzt beziehungsweise der Ärztin?

Nein, im Gegenteil. Unsere digitalen Therapien sollen ärztlich verschrieben werden, dafür beantragen wir gerade die Kassenzulassung. Darüber hinaus ergänzen sie beispielsweise medikamentöse Therapien, indem sie den Betroffenen eine größere Selbstbestimmtheit im Umgang mit der Erkrankung ermöglichen. Bei MillionFriends auf der anderen Seite geht darum, seinen Stoffwechsel besser kennenzulernen und wichtige Voraussetzungen für eine langfristige Gesundheit zu schaffen. So führt es natürlich dazu, dass die Menschen weniger krank werden und seltener ärztliche Hilfe benötigen, so wie alle anderen gesundheitsfördernden Maßnahmen auch.

Was geben die Perfood-Produkte den Patient*innen, was bisherige Therapie-Ansätze nicht können?

Nimm an, du hättest häufig Migräne, mindestens drei Mal pro Monat. Dann hast du Anspruch auf eine Migräneprophylaxe. Diese vorbeugende Behandlung fängt mit der günstigsten wirksamen Therapieform an: Beta-Blocker. Wenn die nicht helfen oder sich Nebenwirkungen zeigen – wie Übelkeit, Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen oder Antriebslosigkeit – dann versucht man es mit Anti-Epileptika oder Antidepressiva. Perfood ist eine neue Möglichkeit ganz zu Beginn der Therapie-Kaskade: Eine konservative “First-Line-Therapie“, die nur auf personalisierter Ernährungsanpassung beruht. In unserer Pilotstudie verringerte sie die Häufigkeit von Migräne-Attacken um durchschnittlich 60 Prozent. Sie hat keine unerwünschten Arzneimittel-Nebenwirkungen und kann gleichzeitig Komorbiditäten verhindern, also andere Krankheiten, die ebenfalls dem Glukosestoffwechsel unterliegen. Das gab es bisher nicht.

Aber Migräne-Betroffene stellen doch heute schon ihre Ernährung um?

Ja, aber Studien zeigen, dass das vielen nicht zuverlässig genug hilft, und zwar deshalb, weil die Ernährungstherapien nicht personalisiert sind. Es hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass man kaum pauschale Aussagen über den Effekt verschiedener Nahrungsmittel auf den Blutzuckerspiegel treffen kann. Denn das ist von Körper zu Körper unterschiedlich. Mein Blutzucker etwa steigt nach einem Müsli stärker an als nach einem Weißbrot mit Nutella. Das bedeutet nicht, dass ich nur noch Weißbrot mit Nutella essen soll, sondern vielmehr, dass ich auf Müsli besser verzichten sollte. Und darum geht es in unseren Produkten: Präzise die Mahlzeiten zu identifizieren, die Menschen vermeiden sollten. Vollständig individuell.

Weißbrot statt Müsli? Das ist überraschend.

Für viele ist das in der Tat noch überraschend, weil man in der Ernährungswissenschaft lange Zeit dachte, die Auswirkungen auf den Blutzucker wären eine konstante Eigenschaft eines Nahrungsmittels. Aber unter anderem durch die Arbeiten an der Uni Lübeck haben wir gelernt, dass das nicht stimmt – man kann die Blutzuckerreaktion nur vom individuellen Körper aus betrachten. Wir haben Menschen in unserer Datenbank, die haben eine niedrige Blutzucker-Antwort auf Schokolade. Wir reden hier also nicht nur von Verzicht wie man es von den meisten Ernährungsumstellungen kennt, sondern von Anpassungen, die auch Genuss erlauben – und dadurch deutlich besser durchgehalten werden.

Wie funktioniert das Blutzucker-Management mit Perfood?

Unsere Nutzerinnen und Nutzer tragen einen kleinen Glukose-Sensor am Arm, der mit einer App verbunden ist. Eine Zeit lang tracken sie ihre Ernährung, Schlafrhythmus, Symptome, körperliche Aktivität und eben den Blutzuckerspiegel. Nach einiger Zeit weiß das Programm, welche Nahrungsmittel sich wie auf den Blutzucker auswirken und stellt personalisierte Empfehlungen zusammen, welche die Schwankungen abmildern.

Wie und wo ist Perfood entstanden?

Am Institut für Ernährungsmedizin an der Uni Lübeck. Torsten, unser Chief Medical Officer, hat dort mit seiner Arbeitsgruppe zu personalisierter Ernährung unter Prof. Christian Sina geforscht, direkt mit Diabetes- und Adipositas-Betroffenen. Irgendwann haben sie gemerkt: Wir haben für viele Patientinnen und Patienten nichts Wirksames mit vertretbaren Nebenwirkungen. Gleichzeitig stellten sie fest, welches Potential in der Ernährung steckt – wenn man sie auf den jeweiligen Menschen zuschneidet.

Was wollt ihr mit dem eingeworbenen Kapital angehen?

Unser Migräne-Produkt sinCephalea auf den Markt bringen und gleichzeitig unsere Forschung zu Diabetes mellitus Typ 2 vorantreiben, sodass wir auch da bald ein Produkt als digitale Gesundheitsanwendung zulassen können.

Wie sieht euer Ertragsmodell aus?

Wenn Betroffene der genannten Krankheiten die Therapie verschrieben bekommen, dann bezahlt die Krankenkasse dafür. Wer unabhängig von Krankheiten mit MillionFriends etwas für seine Gesundheit tun will, der kauft das Produkt in unserem Online-Shop.

In welcher utopischen Zukunft habt ihr all eure Ziele erreicht?

Wenn es keine metabolischen Erkrankungen mehr gibt, oder zumindest nicht so stark ausgeprägt. Es wäre schön, wenn irgendwann jeder Mensch alle zwei Jahre seine personalisierte Ernährung überprüft. Denn dann könnten wir viele dieser Krankheiten verhindern und noch mehr Menschen würden gesund altern, bei körperlicher Leistungsfähigkeit und geistiger Präsenz.